Was für ein Jahr! – Fast bin ich versucht, einen großen Seufzer wie in einer Sprechblase in einem Comic zu setzen. 2020 geht in vier Wochen zu Ende, es sollte das große Beethoven-Jahr werden. 250 Jahre Beethoven standen auf dem Programm, in Bonn, seiner Geburtsstadt, aber auch an anderen Orten sollte sein Geburtstag begangen werden. Beethoven als Komponist, als Künstler von Weltrang sollte gefeiert werden. 2020 sollte ebenso ein Hölderlin-Jahr werden. Dem wie Beethoven 1770 geborenen Dichters Friedrich Hölderlins sollte gedacht werden. Symposien zu seinem Werk, oft erratisch, zugleich berührend und erstaunlich modern, waren geplant. Der Hölderlin-Turm in Tübingen, in dem er die letzten Jahre seines Lebens in geistiger Umnachtung verbrachte, bekam eine neue Ausstellung. 2020, die zweite Jahreshälfte sollte das EU-Jahr werden. Deutschland hat die EU-Ratspräsidentschaft inne. Viele Veranstaltungen, Tagungen und Diskussionen waren in Planung. An das Europäische Kulturerbejahr sollte angeknüpft werden, das Humboldt Forum in Berlin mit großem Aplomb eröffnet werden. Stattdessen ein nicht mehr enden wollender Lockdown, für viele seit März, voraussichtlich bis ins kommende Jahr hinein.
Hoffnungsfroh fing das Jahr 2020 an. Zwar war gleich am Anfang von einer merkwürdigen Krankheit in einer Millionenstadt irgendwo in China zu hören, doch haben viele gedacht, das geht vorbei. Das bleibt auf Asien beschränkt und die Menschen dort haben Erfahrungen mit Pandemien – SARS hat es doch gezeigt.
Doch Corona übernahm das Regime. Die Weltgesundheitsorganisation und das Robert Koch-Institut machten gerade am Anfang der Pandemie keine gute Figur. Jetzt ist nicht die Zeit, die Arbeit dieser beiden Institutionen zu evaluieren, doch wenn die Pandemie hoffentlich bald unter Kontrolle ist, sollten wir dringend diese Organisationen reorganisieren, um für die Zukunft besser gewappnet zu sein.
Im März begann dann die heiße Pandemiephase. Ab Mitte März 2020 kam es zum ersten bundesweiten Lockdown mit der Schließung der Schulen und Kindertagesstätten, Geschäfte, Restaurants und Hotels, Industrieunternehmen und Dienstleistungsbetriebe, Gotteshäuser und der Kultur.
Dabei ist es in Deutschland vergleichsweise noch ganz gut gelaufen. Anders als in anderen Ländern können die schwer Erkrankten noch auf den Intensivstationen versorgt werden. Pflegekräfte, Ärztinnen und Ärzte arbeiten bis an die Belastungsgrenze, um die Erkrankten zu versorgen. Sie lernen jeden Tag dazu im Umgang mit der neuen Krankheit. Jeden Tag ist in den Nachrichten zu verfolgen, wie es in anderen europäischen Ländern aussieht. In Italien, in Spanien erreichten im Frühjahr die Erkrankten- und die Todeszahlen Rekordhöhen. Strenge Ausgangssperren wurden verhängt.
Und in der Kultur? Am 4. März veröffentlichte der Deutsche Kulturrat seine erste „Corona-Pressemitteilung“ unter der Überschrift „Corona-Virus trifft Kulturbereich hart“. Wie hart er ihn trifft, haben wir uns seinerzeit nicht ausgemalt. Am 4. März ging es um die Absage der Leipziger Buchmesse und die Verschiebung der Frankfurter Buchmesse. Der Deutsche Kulturrat mahnte: „Die Absage der Leipziger Buchmesse und die Verschiebung der Frankfurter Musikmesse werden empfindliche wirtschaftliche Auswirkungen insbesondere auf klein- und mittelständische Unternehmen haben. Für sie sind die Messen wesentliche Orte, um sich und ihre Arbeit zu präsentieren und Geschäfte abzuschließen. Auch andere Unternehmen der Kultur- und Kreativwirtschaft, wie privatwirtschaftliche Konzertveranstalter, werden Einbußen erleiden müssen, wenn Veranstaltungen abgesagt werden. Es ist daher zentral, dass das Bundeswirtschaftsministerium bei seinen Wirtschaftshilfen nicht nur das produzierende Gewerbe, sondern auch die klein- und mittelständisch geprägte Kultur- und Kreativwirtschaft im Blick hat.“
Nach dem 4. März ging es Schlag auf Schlag weiter. Fast jeden Tag kamen neue Meldungen. Der „Corona versus Kultur-Newsletter“ wurde gestartet. Kontinuierlich werden, heute zum 28. Mal, Neuigkeiten zusammengestellt und verbreitet. Es ging um erste vorsichtige Förderprogramme, um Überbrückungshilfen und anderes. Immer deutlicher wurde, dass mit kleinen, sporadischen Maßnahmen der Kulturszene und speziell der Kultur- und Kreativwirtschaft nicht zu helfen war. Der Deutsche Kulturrat forderte deshalb einen Kulturinfrastrukturfonds zur Unterstützung der kulturellen Infrastruktur, d. h. der Künstlerinnen und Künstler, der Kulturunternehmen, der Kulturvereine und der öffentlichen Kultureinrichtungen.
Schnell wurde deutlich, dass die Corona-Pandemie insbesondere jene ökonomisch hart treffen würde, die ohnehin nur geringe Einkommen haben. Zu nennen sind etwa die fast 300.000 geringfügig Beschäftigten allein in der Kultur- und Kreativwirtschaft, würden noch diejenigen, die in geringfügiger Beschäftigung in öffentlichen Kultureinrichtungen oder bei Kulturvereinen tätig sind, hinzugezählt, wäre die Zahl noch deutlich größer. Über sie wird kaum gesprochen, sie sind einfach weg. Viele dieser geringfügig Beschäftigten werden Studierende sein, die neben einem Einblick in das Berufsleben vor allem durch ihre Tätigkeit ihren Lebensunterhalt gesichert haben.
Zu nennen sind weiter kurz befristet Beschäftigte, Schauspielerinnen, Maskenbildner und viele andere, die vor allem in Film- und Fernsehproduktionen nur für wenige Tage abhängig beschäftigt sind. Sie zahlen zwar Beiträge zur Arbeitslosenversicherung, schon in „normalen“ Situationen bekommen sie nur in seltenen Fällen Arbeitslosengeld I, jetzt sind sie davon sehr oft ebenso ausgeschlossen wie vom Kurzarbeitergeld.
Zu nennen sind die vielen Künstlerinnen, die Kulturvermittler und viele andere, die selbständig sind und darauf angewiesen sind, dass der „Laden läuft“, dass ständig neue, wenn auch kleine, Aufträge hineinkommen. Diese Aufträge blieben nun aus und vielen blieb als Rettungsanker nur die Grundsicherung.
Der Zugang zur Grundsicherung wurde zwar vereinfacht, so werden die Mietkosten in voller Höhe übernommen, egal ob die Wohnung im Sinne des Gesetzes „angemessen“ ist oder nicht, das Vermögen darf 60.000 Euro pro Person betragen, die Altersvorsorge muss nicht angetastet werden und diejenigen Selbständigen, die Grundsicherung beantragen, müssen dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen. Dennoch, das System zeigt seine Schwäche in den Optionsgemeinden, die während der Agenda-2010-Reformen geschaffen wurden, um flexibel zu reagieren, allerdings nicht an die Weisungen der Bundesagentur für Arbeit gebunden sind. In der Praxis hat das System der Grundsicherung zahlreiche Haken und Ösen.
Im Kulturbereich wird sich heftig dagegen gewehrt, auf einmal wie ein Hartz-IV-Empfänger behandelt zu werden. Es zeigt sich, dass die Soforthilfen und im Anschluss daran die Überbrückungshilfen des Bundeswirtschaftsministeriums nach wie vor ein Unternehmensbild vor Augen haben, bei dem vor allem die Deckung der Fixkosten wie Miete usw. das Problem darstellen. Die seit vielen Jahren schon bestehende „neue“ Form des Arbeitens und der Selbständigkeit, das Laptop-Aufklappen an jedem beliebigen Ort, wird von den bisherigen Hilfsmaßnahmen nicht erfasst.
Zahlreiche, schon seit Langem bestehende Probleme schwappen in Corona-Zeiten auf einmal nach oben. Pflegenotstand, Ausdünnung des öffentlichen Dienstes bei den Gesundheitsämtern, deregulierte Arbeit, Scheinselbständigkeit, Selbständigkeit ohne hinreichende wirtschaftliche Grundlage, mangelnde Digitalisierung, fehlende Breitbandversorgung, kaum Monetarisierungsmöglichkeiten für Kunst im Netz, unzureichende Digitalisierung an den Schulen … die Aufzählung ließe sich mühelos fortsetzen.
Nach den ersten Monaten der sich überschlagenden Ereignisse der Corona-Pandemie bot der Sommer 2020 ein bisschen Entspannung. Die Infektionszahlen gingen nach unten, die harten Maßnahmen hatten Wirkung erzielt, die Menschen hielten sich stärker draußen auf. Im Kulturbereich öffneten langsam und zaghaft wieder die Einrichtungen, Auftritte fanden, wenn auch unter strengen Hygienebedingungen, wieder statt. Sogar die Frankfurter Buchmesse wurde geplant, die Art Cologne wurde für den November ins Auge gefasst. Theater, Museen, Kinos, soziokulturelle Zentren, Bibliotheken usw. konnten unter passgenauen Hygienekonzepten sehr eingeschränkt wieder arbeiten. NEUSTART KULTUR, das vom Deutschen Kulturrat geforderte eine Milliarde Euro große Kulturinfrastrukturprogramm, konnte anlaufen.
Und dann, im Oktober der Rückfall, wieder steigende Infektionszahlen, noch herrschte die Hoffnung, dass es dieses Mal den Kulturbereich nicht so hart treffen möge. Die Hygienekonzepte lagen doch vor und wurden penibel umgesetzt. Dennoch, auch Kultureinrichtungen müssen ab dem 2. November, dem Beginn des zweiten Lockdowns, wieder schließen. Fast alle wieder auf null.
Es wurde uns klar, es geht gar nicht um das Theater und das Museum und ihre ausgefeilten Hygienekonzepte, sondern es geht schlicht und ergreifend darum, dass die Menschen nicht rausgehen sollen. Zu Hause bleiben ist die Idee. Möglichst wenig Menschen treffen das Ziel.
Wir konnten erreichen, dass im Infektionsschutzgesetz, das korrekt „Drittes Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ heißt, im § 28a „Besondere Schutzmaßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus SARS-CoV-2“ die Untersagung oder Beschränkung des Betriebs von Einrichtungen, die der Kultur und der Freizeitgestaltung zuzurechnen sind, nicht mehr in einen Topf geworfen werden. Im § 28a Ziffer 7 wurden die Kultureinrichtungen nun eigenständig aufgenommen: „Untersagung oder Beschränkung von Kulturveranstaltungen oder des Betriebs von Kultureinrichtungen“.
Kultureinrichtungen sind mehr als Freizeiteinrichtungen. Theater, Museen, Bibliotheken, Konzerthäuser, Kinos und andere sind viel mehr als reine Vergnügungsorte, es sind die Orte, an denen Kunst, die nach unserer Verfassung (GG Art. 5, Abs. 3) unter besonderem Schutz steht, präsentiert wird. Künftige Einschränkungen für Kulturorte wegen der Pandemie müssen aufgrund der neuen Regelungen im Infektionsschutzgesetz von den Regierungen von Bund und Ländern begründet werden. Das ist gut so!
Die Kulturminister der Länder erhalten durch dieses Gesetz jetzt die Möglichkeit, eine Strategie zur baldigen Öffnung der Kultureinrichtungen vorzulegen. Wir erwarten, dass die Kulturminister diese Aufgabe beherzt angehen und ihrer Verantwortung gerecht werden. Der Kulturbereich muss so schnell wie möglich wieder geöffnet werden.
Noch bis mindestens zum 20. Dezember wird der Lockdown für Kultureinrichtungen fortgeführt. Das bedauere ich sehr, aber wir müssen sehen, dass das Infektionsgeschehen es noch nicht zulässt, den Lockdown zu beenden.
Der Kulturbereich ist fast durchgängig seit März im Lockdown. Es muss jetzt geklärt werden, wie lange wir noch diese Sonderlasten tragen müssen, oder ob nicht auch andere Bereiche, wie z. B. der Handel, einen Teil der notwendigen Beschränkungen übernehmen sollten.
Was auch jetzt Anfang Dezember 2020 fehlt, ist die konkrete Perspektive. Wie geht es weiter? Das fragen sich viele Unternehmerinnen und Unternehmer, wie lange kann ich noch durchhalten, die Mitarbeitenden in Kurzarbeit schicken, soll ich weiter Schulden anhäufen und dann warten, dass es wieder besser wird, aufwärts geht. Doch wie lange ist dies möglich? Wie lange noch können weitere Förderprogramme aufgelegt werden, um über die schlimmsten Durststrecken hinwegzukommen? Wird noch das dicke Ende kommen, wenn die Pandemie überwunden ist und das jetzt verwandte Geld durch Einsparungen in den öffentlichen Haushalten wieder eingesammelt wird? Erste Kommunen haben bereits deutliche Kürzungen im Kulturetat angekündigt. Viele offene Fragen.
Der Kulturbereich hat eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe zu erfüllen, gerade auch in der Not. Das darf nicht vergessen werden. Die Menschen im Kulturbereich haben viel zu sagen, zu zeigen und zu spielen. Die Menschen im Kulturbereich entführen uns in neue Welten. Die Menschen im Kulturbereich machen mit ihrer Arbeit Freude, gerade auch in schweren Zeiten. Die Menschen im Kulturbereich sind diejenigen, die wichtige gesellschaftliche Debatten führen.
Ihr
Olaf Zimmermann
Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates