WEEKLY.COMMENT Lydia González Whittingham

Sie ist Studentin im 3. Studienjahr an der Modefachschule Sigmaringen.
„…manchmal sind Träume es wert, alles dafür zu bezahlen, was man hat und noch mehr, sich auf das Abenteuer „Ich“ einzulassen und zu schauen, wohin es einen führt.“

Was kostet ein Traum?
(An die Menschen, die den Preis nicht kennen)

Ich kann mich nicht erinnern, dass es jemals eine Zeit gegeben hätte, in der es für mich nicht oberste Priorität hatte, meinen Leidenschaften nachzugehen. Angefangen im Kindergarten, wo ich grundsätzlich nie an den Ausflügen zum Spielplatz teilnehmen wollte und so jedes Mal fürchterliche Bauchschmerzen simulierte,um drinnen bleiben und zeichnen zu dürfen, bis die anderen wiederkamen.  Zum Leidwesen meiner späteren Lehrer, hatte ich den „Dreh“ raus. Ich wusste, dass das Vortäuschen von Halsschmerzen und Magen-Darm-Grippe eine Art Universal-Zauberspruch war, um dem lästigen Schulalltag und den Klassenkameraden, die man eh nicht ausstehen konnte, zu entgehen. Wenn mal keine Ausrede half, dann war ich zwar anwesend, aber brachte nichts zu Papier – außer Skizzen, sehr viele Skizzen.

Irgendwann hielt ich selbst das Ausreden finden für reinste Zeitverschwendung und so kam es, dass ich einen Großteil der Zeit, die ich hätte in der Schule verbringen sollen, zuhause blieb und dort das tat, was mir das Wichtigste war. Ich zeichnete. Wie man sich vermutlich denken kann, waren diese Jahre geprägt von Ärger und sozialer Isolation. Meine schulische Laufbahn verlief also alles andere als reibungslos und auch im späteren Berufsleben sah das nicht anders aus. Ich suchte mir einen Job, bei dem es möglich war, mich nebenher mit Stift und Papier zu beschäftigen. Da das jedoch irgendwann so sehr überhand nahm, dass das ein oder andere Gespräch mit Vorgesetzten nicht aus blieb, schien auch das nicht die Lösung zu sein, nicht mein Weg zu sein. Nun könnte man meinen, es wäre mir möglich gewesen, mich einfach zusammen zu reißen, Beruf und Hobby zu trennen und meine kläglichen Versuche, ein „normales“ Leben zu führen, seien aufgrund meines eigenen Mangels an Selbstkontrolle und Disziplin gescheitert. Dem muss ich in jeder Hinsicht widersprechen. Ich hatte keine Wahl. Denn das, was andere als „Hobby“ belächelten, war nie etwas anderes, als meine Bestimmung, eine Passion, die sich Jahr für Jahr immer mehr dem Wahnsinn näherte und jeder Anlauf, den ich nahm, meine Dränge in irgendeiner Art und Weise zu unterdrücken, mich wie alle anderen zu verhalten, endete in tiefstem, alles umfassendem Unglücklichsein. Was immer mir die zeitliche und kreative Freiheit nahm, war ein Feind in meinem Leben und erst, als ich das für mich akzeptierte, als ich mich selbst so akzeptierte, wie ich eben war, da begannen sich die Türen zu öffnen.

Nach über 15 Jahren, die ich damit verbrachte, gegen mein Wesen anzukämpfen und mich in die Gesellschaft, wie sie um mich herum eben war, einzufügen, erhielt ich ein Angebot, das ich nicht ablehnen konnte: Eine Online-Ausbildung zum Modedesigner an der Modefachschule Sigmaringen. Ich schmiss alles hin. Ich warf meinen Job samt der Selbstständigkeit, die ich nebenbei plante, über Bord. Ich cancelte Pläne und Reisen.
Ich räumte meine Wohnung um, alles musste raus, denn ich brauchte Platz. Viele Kindheitserinnerungen, Weihnachtsgeschenke der letzten Jahre, selbst nicht absolut notwendige Möbel, alles wurde verschenkt, gespendet oder landete auf dem Sperrmüll.
Ich stellte mich ein, auf eine Zeit, in der ich mit einem lächerlich niedrigen BAföG Satz auskommen sollte, schlug mich mit Behörden und Ämtern herum, die so gar nicht verstehen wollten, was mein Kurswechsel zu bedeuten hatte. Ich investierte alles Geld, was mir noch geblieben war, in Materialien, Gebühren und Gerätschaften, verschuldete mich für die nächsten Jahrzehnte und als wäre all das nicht genug, sagte ein Teil von mir wehmütig „Lebwohl“ zu den Menschen, die mich bisher umgaben, denn ich wusste, weder Ablenkung noch negativer Einfluss dürften in diesem neuen Abschnitt einen Platz haben. In welchem Maße all das dann auch wirklich eintraf, war mir zu dem Zeitpunkt noch überhaupt nicht bewusst.

Doch genau so kam es, sogar aggressiver als vermutet. Man sollte meinen, ein plötzlicher finanzieller Absturz dürfte keine Auswirkung auf bestehende und bis dahin gut laufende Freundschaften haben, doch umso mehr Geld ich in Stoffe, Papiere, Garne, Kurzwaren investieren musste, umso weniger Geld hatte ich für feucht-fröhliche Abende, Ausflüge oder Kinobesuche und umso seltener wurde ich angerufen. Und allem voran wirkte sich der Zeitmangel, der plötzlich meinen Alltag beherrschte, so aus, dass ich irgendwann nicht mal mehr Zeit fand, WhatsApp Nachrichten regelmäßig zu lesen und zu beantworten. Ich fand kaum noch freie Tage, um alte Freunde zu besuchen, wenn diese sich weiter als 10km entfernt von mir entfernt befanden und der entgangene Anruf meiner ältesten Freundin ist jetzt schon über eine Woche her. Ich habe nicht zurückgerufen. Es ist nicht so, als würde ich all diese Menschen nicht vermissen, als wäre mir nicht bewusst, wie sehr ich sie vernachlässige, aber die Zeitzone, in der ich jetzt lebe, ist eine völlig andere als ihre.

In der Welt, in der ich mich gerade befinde, drehen sich die Zeiger der Uhr schneller, der Druck ist größer, die Erwartungen höher. Während sie ins Bett gehen, um sich von ihrem Arbeitstag zu erholen, ist meiner noch längst nicht zu ende. Oft sitze ich bis tief in die Nacht noch an Projekten, das Netflix-Abo ist unbemerkt abgelaufen, die Stromkosten gesunken, Zeit zum Kochen ist nicht mehr und der Briefkasten quillt über vor kostenlosen Zeitschriften und Prospekten. Keine Zeit für Nebensächlichkeiten, denn die Fristen für Projektabgaben, dem Anfertigen von Werkstücken, das Festigen von Erlerntem, machen weder Halt vor Wochenenden noch Familien-Geburtstagen. Zeit, die ich mit meinem Privatleben verbringe, sei es der wöchentliche Einkauf, Telefonate mit Ämtern (die mich immer noch nicht in Ruhe lassen) oder ein Arzttermin, gilt es wieder reinzuarbeiten und die Lücken im Wochenplan, die bei all dem noch bleiben oder die ich mir erlaube einzuräumen, die widme ich aus tiefster Überzeugung meiner Familie. Wenn ich doch selbst für sie schon viel zu wenig Zeit habe, wie soll ich es da schaffen, noch Smalltalk mit Freunden unterzukriegen? Ich trage sie im Herzen und denke an sie – ständig, aber mehr als liebevolle Gedanken und ein schelmisches Lächeln beim Zurückdenken an gemeinsame Erlebnisse bin ich momentan nicht imstande zu geben. Ich hoffe, dass der ein oder andere die Geduld hat, auf mich zu warten und das Verständnis aufbringen kann, dass meine Prioritäten sich verändert haben.

Aber ebenso möglich ist es, dass ich allein sein werde, wenn ich mit meiner Ausbildung fertig bin – allein und bis über beide Ohren verschuldet. Ja, so kann es aussehen: das Opfer, das man bereit sein muss zu erbringen, um den einzigen Weg zu gehen, der sich für einen richtig anfühlt; der Preis, den man für seinen Traum zu zahlen hat. Bevor man so einen Weg beschreitet, sollte man gut abwägen. Ist der Traum es wert, so vieles aufzugeben, sich so sehr durchzukämpfen? Ich für mich kann diese Fragen nur mit „Ja“ beantworten. Ich bin auf dem Weg, meine Passion zum Beruf zu machen, meine Träume zu manifestieren. Ich legte das Smartphone aus den Händen, um Nessel zu bügeln, tauschte das Weinglas gegen ein Kurvenlineal, den Jahresurlaub gegen eine Overlock und statt mich mit meinen Freunden vor Lachen zu krümmen, diskutiere ich nun mit meiner Schneiderpuppe, wer sich wem zu unterwerfen hat.

Und trotz alledem, was ich zurücklassen und ersetzen musste, trotz der Monate, in denen das Geld nicht mal bis zum 20. reicht und der Abende, an denen ich nicht weiß, wen ich, außer der Familie, noch anrufen kann, wer noch gut auf mich zu sprechen ist und das Telefon nach langem Überlegen meist einfach wieder beiseite lege, trotz alledem bin ich glücklicher und näher an mir selbst, als je zuvor. Ja, manchmal sind Träume es wert, alles dafür zu bezahlen, was man hat und noch mehr, sich auf das Abenteuer „Ich“ einzulassen und zu schauen, wohin es einen führt.

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